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Richard Sennetts "Handwerk" - ein Versuch über den Menschen als Handwerker

Um es gleich vorweg zu sagen, Richard Sennetts 2008 erschienenes Buch "Handwerk" (der Titel der Originalausgabe lautet "The Craftsman") ist kein Plädoyer für die Wiedergeburt des Zunftwesens aus dem Geist der sich selbst genügenden Sorgfalt. Es bietet auch keinen systematischen Überblick über die handwerkliche Arbeit gestern, heute und morgen. Dieses erste von insgesamt drei geplanten Büchern über "Techniken der Lebensführung" handelt, so die verheißungsvolle Ankündigung des Verfassers, "von den handwerklichen Fertigkeiten, von der Fähigkeit, Dinge so herzustellen, dass sie wirklich gut sind."

Ein "dauerhaftes menschliches Grundbestreben" erkennt Sennett nämlich in dem "Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen". Und diese anthropologische Konstante ist insbesondere gemeint, wenn von handwerklichen Fertigkeiten oder handwerklicher Orientierung die Rede ist - Fertigkeiten und Orientierungen, die nicht nur in den eigentlichen handwerklichen Berufen, sondern ebenso auch "bei Programmierern, Ärzten und Künstlern" zu finden seien.

Damit aus dem subjektiv-menschlichen Wunsch, etwas gut zu machen, die objektive Realität einer gut gemachten Sache wird, bedarf es nach Sennett des ständigen Dialogs zwischen Denken und Handeln, zwischen Hand und Kopf. Dass es in Wahrheit vermutlich um eine Dreiecksbeziehung, nämlich um die zwischen Hirn, Hand und Herz geht, sei hier am Rande vermerkt. Wenn der Autor am Ende des Buchs in einem Kapitel über Ethik den Stolz auf die eigene Arbeit als "den Kern handwerklichen Könnens und Tuns" bezeichnet, stellt er damit unmissverständlich klar, dass für ihn Handwerker sein heißt, mit dem Herzen als dem Zentrum menschlicher Emotionalität bei der Sache zu sein.

Das Hineinhorchen in den Dialog zwischen Hirn und Hand, oder weniger bildlich gesprochen: die ansatzweise Analyse seiner historischen und systematischen Bedingungen, ist das unausgesprochene Programm von Sennetts Buch über das Handwerk und den Handwerker.

Wenn der Verfasser sich selbst als philosophisch ausgerichteten Autor bezeichnet, dann ist damit schon angedeutet, dass es sich bei seiner Untersuchung nicht um ein philosophisches Werk im engeren Sinn handelt, einmal unterstellt, es ließe sich überhaupt sinnvoll zwischen philosophischen Werken im engeren und im weiteren Sinn unterscheiden.

Gleichwohl begann der Soziologe und Historiker Richard Sennett, geboren 1943 in Chicago, seine wissenschaftliche Laufbahn u.a. als Schüler der vor den Nazis in die USA geflüchteten Philosophin Hannah Arendt. Ihre Unterscheidung zwischen dem auf das Wie einer Sache fixierten Arbeitstier Mensch (Animal laborans) und dem das Warum bedenkenden Homo faber will Sennett so nicht länger gelten lassen, da sie den praktisch tätigen Menschen zerlege in einen, wenn man so will, blind tätigen und einen vorwiegend reflektierenden Aspekt. "Weniger einseitig", so Sennett, "wäre die Vorstellung, dass auch beim Herstellen Denken und Fühlen eine Rolle spielen". Da Arendts Animal laborans es ist, welches gewissermaßen bei der Geburt des Hergestellten mit Hirn, Hand und Herz dabei gewesen ist, wäre es nach Sennett auch dazu in der Lage, dem gedankenvollen aber tatenarmen Homo faber als Führer zu dienen. Von einer eingehenden Untersuchung der Dinge einschließlich ihres Herstellungsprozesses verspricht sich Sennett neben einem Verständnis der Genese religiöser, sozialer und politischer Werte schlicht und ergreifend eine humanere Gestaltung des materiellen Lebens, ohne jedoch seinen Begriff von Humanität näher zu erläutern.

Sennett führt den Leser kreuz und quer durch die Jahrhunderte und die unterschiedlichsten Themenbereiche. Die mittelalterliche Werkstatt als soziale Institution nimmt er dabei ebenso in Augenschein wie die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbauten Häuser des Architekten Adolf Loos. Abgesehen davon, dass im Anschluss an diese Hausbesichtigungen eine Auflistung dessen, was den guten Handwerker ausmacht, gegeben wird, ist nicht immer klar, was die jeweiligen Ausführungen mit dem selbst gestellten Thema der handwerklichen Arbeit zu tun haben. Wer dem Autor dennoch zu folgen bereit ist, erfährt mehr oder weniger Interessantes beispielsweise über das archaische Griechenland, die Sonderstellung der Linux-Programmierer oder den Bau eines Themse-Tunnels.

Eingebettet in dieses mitunter etwas beliebig wirkende Hin und Her sind einige Gedanken zum Thema Handwerk und Kunst. Gleich zu Beginn heißt es da lapidar: "Was die Praxis angeht, gibt es keine Kunst ohne Handwerk. Die Idee für ein Gemälde ist noch kein Gemälde." Zwar ist die Idee für ein Gemälde noch kein Gemälde, in Anbetracht von Entwicklungen im Bereich der Konzeptkunst muss man jedoch tatsächlich in Erwägung ziehen, dass das Konzept, also eine Idee, bereits die Kunst selbst ist. Wem es aber wie Sennett darum zu tun ist, in jedem Geistigen den dinglich-materiellen Kern freizulegen, aus dem es sich herausgebildet hat, der wird einer künstlerischen Praxis, die dauerhafte Bindungen ans physisch Reale zu umgehen sucht, nur ungern glauben wollen, dass sie überhaupt etwas sei.

Was all diesen Detailbeobachtungen und disparaten Bemerkungen über die Verwendung des Ziegelsteins oder den Einsatz von Robotern ihren theoretischen Rahmen gibt, wird in dem nur vierzehn Seiten umfassenden Schlusskapitel über die "philosophische Werkstatt" deutlich. Hier outet sich Sennett als Vertreter des ins späte 19. Jahrhundert zurückreichenden philosophischen Pragmatismus, der sich "mit den gewöhnlichen, vielfältigen, konstruktiven Tätigkeiten des Menschen" befasst habe, und dessen zentraler Begriff der der Erfahrung (experience), insbesondere auch im Sinne von Erleben sei. Erfahrung meint dabei das, was uns "eine Hülle aus implizitem Wissen für unser Handeln" bietet, eine Hülle die uns dann bei aktuellen Begegnungen mit Dingen oder Menschen von Nutzen ist. "Sowohl die Schwierigkeiten wie die Möglichkeiten, denen wir beim Herstellen von Dingen begegnen, haben auch Bedeutung für die Herstellung zwischenmenschlicher Beziehungen", stellt Sennett in diesem Schlusskapitel fest und nennt als Beispiele das Umgehen mit Widerständen und Mehrdeutigkeiten ebenso wie die positive Rolle von Routine und Übung.

Wenn Sennett allerdings an gleicher Stelle behauptet, er habe "in diesem Buch zu zeigen versucht, dass die Herstellung materieller Dinge uns Einblicke in Techniken der Erfahrung gewährt", so ist dies doch mit mehr als nur einem Fragezeichen zu versehen. Der Nachweis eines Zusammenhangs zwischen Herstellungsweise und Erfahrungstechnik wurde nämlich keineswegs erbracht. Zu sagen, dass man bei der handwerklichen Arbeit Erfahrungen machen kann, die auch im Zwischenmenschlichen nützlich sein können, ist etwas anderes als zu behaupten, dass es möglich und wünschenswert ist, dem Erleben selbst eine handwerkliche Prägung oder Form zu geben - was ja durch die Rede von den "Techniken der Erfahrung" oder jener vom "Handwerk der Erfahrung" impliziert wird. Wäre Erfahrung eine wie auch immer erlernbare und veränderbare Technik, müsste man Erfahrung ja erfahren und das eigene Erleben erleben können. Dass und wie das möglich sein soll, wird von Sennett nicht einmal ansatzweise erörtert.

Abgesehen von den bereits erwähnten Unstimmigkeiten scheint mir Sennetts Hoffnung auf eine grundlegende und generelle Heilung durch Handwerk - eine Hoffnung, die immer wieder leitmotivartig anklingt - das eigentlich Fragwürdige seines Buches zu sein. Dass die erhofften, wenngleich nur pauschal postulierten Humanisierungseffekte offenbar nicht von selbst aus der Sphäre der Arbeit hervorgehen - nicht einmal dort, wo die Gegenstände handwerklich hergestellt worden sind -, kann Sennett kaum entgangen sein. Hannah Arendts Skepsis gegenüber dem Animal laborans, zu dessen Ehrenrettung Sennett ja angetreten ist, und in das er größtes Vertrauen setzt, scheint also nach wie vor realistisch zu sein. Auch mit einer Selbstinstallation der handwerklichen Orientierung als einer Art Software für humanere Dinglichkeit und handwerklichere Zwischenmenschlichkeit werden wir bis auf weiteres nicht rechnen können. Wie dann aber dem Handwerklichen auf allen Ebenen, einschließlich der der Erfahrung, Geltung verschafft werden soll, bleibt eine offene Frage. Angesichts der komplexen arbeitsteiligen Verflechtungen der industriellen Massenproduktion hat die Vorstellung eines reflektierenden Innehaltens des Einzelnen während des Produktionsprozesses etwas Romanhaftes. Die Therapierung des unter Reflektionszwang leidenden Animal laborans wäre unter den gegenwärtigen Bedingungen ein realistischeres Konzept als umgekehrt die Heilung der Gesellschaft durch dessen Nachdenken.

Unter dem Decknamen "Pandora" sieht Sennett immer schon und immer wieder "Missmanagement, Selbstschädigung und Verwirrung" ihr Unwesen treiben, was bei nicht Wenigen unter dem aktuellen Eindruck von Bankenpleiten und Wirtschaftskrise ein beifälliges Kopfnicken auslösen wird. Ihr sich entfaltendes Regime scheint neben anderem auch zwingende Gründe für "Veränderungen im Umgang der Menschheit mit der physischen Welt" hervorzubringen - seit Hölderlins "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!" wissen wir ja, dass das Schlechte paradoxerweise dem Guten gut tut - also je schlechter, desto besser. Wer solche an Hoffnungen grenzende Befürchtungen - käme man doch unter dem Eindruck der unmittelbar drohenden Katastrophe endlich dahin, wo man längst sein sollte - nicht teilen kann, für den reduzieren sich Sennetts Überlegungen zum Weltverbesserungspotential des Handwerklichen nüchtern betrachtet auf den Satz: Wenn wir uns alle bei unserer jeweiligen Arbeit etwas mehr praktische und gedankliche Mühe gäben, würde alles ein wenig besser gehen - was allerdings eine triviale Feststellung ist.

Es wäre nun aber falsch zu glauben, Sennetts Versuch über den Menschen als Handwerker sei, holzwerkstattlich gesprochen, ein Fall für die Brennholzkiste. Nicht nur, dass man bei seinen weitschweifigen Ein- und Auslassungen immer wieder auf Interessantes und Merkwürdiges stoßen kann - das besondere Augenmerk, das Sennett als Vertreter des philosophischen Pragmatismus auf die konkrete Erfahrung und die Wurzeln des Ideellen im Materiellen richtet, verdient Beachtung. Mag einem auch die Behauptung "was wir sind, ergibt sich ganz unmittelbar aus dem, was unser Körper zu tun vermag" ein wenig zu zugespitzt vorkommen, der Grundgedanke einer durch körperliches Tun geschaffenen Brücke von der Sphäre des Grobstofflichen hinüber in die des Feinstofflichen hat etwas für sich, wenngleich zu beachten sein wird, dass diese Brücke keine Einbahnstraße ist. Gewiss hat auch die von Sennett gerne erwähnte menschliche Hand im Laufe ihrer, will sagen: unserer Entwicklung einen Formungsprozess durchlaufen, dessen Gründe aber nicht in ihrer Anatomie zu finden sind. Hier stößt das sich pragmatisch nennende Philosophieren an Grenzen, die weniger mit körperlichem Unvermögen als mit gedanklichem Unwillen zu tun haben.

Lothar Rumold, Januar 2009

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