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Lothar Rumold: "Eine Verteidigung des Sonntagsspaziergangs und andere Werke". Rede zur Eröffnung der 11. Gruppenausstellung Grötzinger Maler am 27.12.2000

Meine Damen, meine Herren,

vor vier Jahren habe ich hier im Kreis der Grötzinger Malerinnen und Maler zum ersten Mal mit ausgestellt, vor zwei Jahren, also beim letzten Mal, dann schon zum vorläufig letzten Mal. Denn inzwischen wohne ich in einer Straße, die "Grötzinger Straße" heißt und die, die sich mit Straßennamen auskennen, wissen, dass eine Straße, die "Grötzinger Straße" heißt, keine Grötzinger Straße sein kann.

Der relative Nachteil des Nicht-mehr-in-Grötzingen-Ansässig-Seins bringt nun allerdings den relativen Vorteil mit sich, dass ich heute unter der Überschrift "Einführung" zu Ihnen sprechen darf.

Die "Grötzinger Malerin" Brigitte Nowatzke-Kraft weist in einem persönlichen Statement zu dieser Ausstellungsreihe auf die bemerkenswerte Konstanz und Kontinuität des Publikumsinteresses an der Grötzinger Biennale hin. Ich darf daher annehmen, dass für die meisten der hier Anwesenden die meisten der hier ausstellenden Künstlerinnen und Künstler sozusagen alte Bekannte sind.

Der Brauch will es, dass am Anfang einer Ausstellung eine Ausstellungseröffnung und am Anfang einer Ausstellungseröffnung eine Einführungsrede steht. Erlauben Sie mir daher, dass ich Sie mit Ihren alten Bekannten nun der alphabetischen Reihe nach noch einmal bekannt mache. Ich werde mir darüber hinaus die Freiheit nehmen, mit einigen unsystematisch-assoziativen, mitunter auch unsachlichen Bemerkungen eher und hoffentlich einen Beitrag zu Ihrer und meiner Unterhaltung als zu einem virtuellen Lexikonartikel zu liefern.

Sabine Gärtner-Classen, geboren 1959 in Stuttgart:

In der Mitte hält sich die Hitze am längsten, erkaltet die glühende Tonmasse zuletzt. Im Zentrum der Bewegung herrscht Ruhe nicht erst dann, wenn Kräfte und Gegenkräfte in der entstandenen Form zu einem momentanen Ausgleich gefunden haben. Der belehrbare Betrachter notiert: Keine Bewegung ohne Ruhe, keine Ruhe ohne Bewegung. Was feste Gestalt annehmen soll, muss formbar gewesen sein und erhebliche Temperaturunterschiede bruchlos überstanden haben.

Inge Heel, geboren 1943 in Heilbronn:

Die lakonische Eindeutigkeit von Titeln wie "Herbstlandschaft", "Felsentor", "Burg" gibt dem Betrachter eine unumwunden klare Antwort auf seine eventuelle Frage, was dieses und jenes Bild denn darstelle. Ein Anderer hat auf diese tatsächlich an ihn gerichtete Frage mit der Gegenfrage geantwortet: "was stellen Sie denn dar?", womit er wohl sagen wollte, ein Bild habe ebensowenig die Aufgabe etwas darzustellen wie ein Mensch, sondern stehe wie dieser zuerst und zuletzt vor allem für sich selbst. Wo aber Frank Stella sagte: "What you see is what you see", sagt Inge Heel: "What you see is: eine Herbstlandschaft, ein Felsentor, eine Burg". Wer's nicht glaubt, muss seinen Augen trauen und selbst entscheiden, was er sieht.

Bettina Kunzmann, geboren 1965, in Grötzingen aufgewachsen:

"Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern, die da scheide zwischen den Wassern. Da machte Gott die Feste und schied das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste."

Der uranfängliche Unterscheidungsprozess, von dem in Genesis 1 berichtet wird, ist in Bettina Kunzmanns Bildern noch immer im Gange. Noch ist auf die gebräuchlichsten Wörter kein Verlass: was "fest" oder "flüssig", "Erde", "Wasser" oder "Luft" zu nennen ist, bleibt schwebend wie der Geist Gottes auf dem Wasser. Diese Welt vor der Welt ließe sich nur mit einer Sprache vor der Sprache in Worte fassen. Wir nähern uns einem Zustand, wo es auch zwischen Welt und Wort noch keinen Unterschied gibt - ein Zustand, von dem es zu Beginn des Johannes-Evangeliums heißt: "Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort".

Dieter Mokroß, geboren 1936 in Gleiwitz:

Licht und Schatten, Wolken, Wasser, Land, der Morgen, der Blick ins Innere einer barocken Kirche - kein Zweifel: der Maler kann und zeigt, dass und was er kann. Die Welt ist nicht im Entstehen begriffen, sondern voll entfaltet, die Natur längst kultiviert, die Kultur noch barock, allenfalls rokoko, so dass nur Kunsthistorikerinnen die Andeutung eines Niederschlags von Niedergang und Infragestellung des Daseins in den Bildern von Dieter Mokroß erahnen könnten, wenn sie wollten.

Es ist angenehm, die Welt durch diese Bilder zu betrachten, einer, der nicht nach der Mode geht, wie er selbst sagt, bewahrt sich und uns ein Stück Glauben an die Möglichkeit existentieller Unzweideutigkeit.

Brigitte Nowatzke-Kraft, geboren 1949 in Baden-Baden:

Exterieur, Interieur. Treppen, Räume, Kaffeetassen. Haus und Häuslichkeit. Dunkles Geheimnis und alltäglichstes Am-Leben-Sein - als ob das eine nicht untrennbar mit dem anderen verwoben wäre. Orientierungsversuche im Bildraum, im Sprachraum: wo hört "Milchtüte" auf, wo fängt "Haus" an? Dass alles fließt, bedeutet in diesen Bildern nicht das Ende von Form und Farbe, im Gegenteil: hier wird mit Farbe und Form immer wieder ein neuer Anfang gemacht, die Welt all-täglich rekonstruiert: Zerbrechliches und Zerbrochenes inklusive.

Oskar Rösch, geboren 1920 in Appenweier:

Das Modellieren gibt ihm, wie er selbst sagt, Kraft, Vitalität, Glück und Zufriedenheit. Seine Motive sind diejenigen, die Vollblutkünstler seines Schlages seit den Zeiten der Höhlenmalerei und der Venus von Willendorf immer wieder fasziniert haben: Frauen, Stiere und hin und wieder ein Vöglein am Brunnenrand.

Richard Rothweiler, geboren 1926 in Grötzingen:

Es trifft sich immer gut, wenn einer, der muss, nicht nur will, sondern auch kann. Dann darf er, dann soll er auch und das Publikum ist angetan und kauft's ihm gerne ab. In diesem Fall: seine Bilder. Und weiß meistens nicht einmal, dass der Rothweiler, Richard dem Rauschenberg, Robert ähnlich sieht. Was aber, ich gebe es zu, hier eigentlich nichts zur Sache tut.

Bruno Schüßler, geboren 1925 in Grötzingen:

Er verfasst "mit Phantasie und Farbe", wie er selbst schreibt, gemalte Lobgesänge auf die lokale Fauna und die Kollegen van Gogh, Picasso, Otto Müller und August Macke. Nicht zuletzt aber auch auf sein Heimatdorf Grötzingen. Und hat sich zum Glück genügend Naivität bewahrt, um dies in volksliedhaft-unbefangener Manier tun zu können.

Harald Seyfried-Lantin, geboren 1940 in Karlsruhe:

"Die Malerei ist in mir wie ein Widerhall, wie die tiefe Bewegung einer werdenden Erinnerung." Ein Satz, mit dem der Maler beweist, dass er auch Poet ist. Dass der Poet auch Maler ist, belegen seine Bilder. Konträrfarben steigern sich gegenseitig in ihrer Wirkung. Rhythmisches bewegt sich um eine Mitte, wo in einem Bilde ein Tor sich öffnet. Eingang oder Ausgang, Anfang oder Ende? Natürlich stets: sowohl als auch.

Josef Sommer, geboren 1919 in Bad Liebenzell:

Wer die Landschaft um Grötzingen nicht kennt, der kann sie in diesen Pastellen kennenlernen. Es sind gemalte Sonntage, die auch noch am Montagmorgen der Kritik standhalten. Die Bilder von Josef Sommer sind eine Verteidigung des Sonntagsspaziergangs gegen die Landnahme durch Reihenhauslieferanten und deren Kundschaft und gegen die Zeitnahme durch Freizeitindustrielle und Fernsehwerbezeitverkäufer. Der bereits erwähnte belehrbare Betrachter mag notieren: Ob ein Bild ein politisches ist oder nicht, darüber entscheidet der Kontext.

Der Maler Gao Xingjian, der in diesem Jahr für seine schriftstellerische Arbeit den Literaturnobelpreis erhalten hat, sagt, die Malerei fange für ihn dort an, wo die Sprache aufhöre und über seine Bilder könne er kaum mehr sagen als: in ihnen sei der Blick, der meditiert.

Man möge es mir nachsehen, dass ich heute anlässlich dieser Ausstellungseröffnung doch etwas mehr gesagt habe. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Lothar Rumold

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