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Lothar Rumold: "Versuch über das Blind Date oder Von der Blindheit als Technik zur Produktion wirklicher Andersheiten" (zur Eröffnung der Ausstellung "Bilderreisen und Texttouren" mit Arbeiten von Gabriele Goerke und Lothar Rumold am 20.2.2009 im Karlsruher Künstlerhaus)

Meine Damen und Herren,

wie Sie wissen, haben wir unsere Ausstellung "Bilderreisen und Texttouren" genannt. Es kommt heute Abend, also jetzt, als kleines Extra noch eine Text-Tortur hinzu, die ich mir speziell für Sie habe einfallen lassen.

Ich möchte Ihnen etwas über unsere gemeinsame Bilderserie "Blind Date" erzählen. Wer noch keine Gelegenheit gehabt hat, sich damit ein wenig zu befassen, dem sei an dieser Stelle in aller Kürze gesagt: Text und Bild haben auf diesen Blättern kontrolliert unkontrolliert, man könnte schon sagen blind zueinander gefunden. Sie hatten also so etwas wie ein Blind Date auf einem Blatt Papier. Über Einzelheiten des Verfahrens werde ich Ihnen später noch Auskunft geben.

Gerhard Richter, der Maler Gerhard Richter, hat einmal gesagt, der Zufall sei manchmal besser als er selbst. Wenn der Zufall es besser kann als Gerhard Richter, so dachten wir uns, kann er es wahrscheinlich auch besser als Gabi Goerke und Lothar Rumold - und beschlossen, bei unserer Blind-Date-Serie dem Zufall die Gelegenheit zu geben, einmal zu zeigen, was er so drauf hat.

Blind Date, das heißt ja, dass man nicht weiß und zunächst auch gar nicht wissen will, was oder wer da auf einen zukommt. Blind Dates setzen daher eine gewisse Risikobereitschaft und den partiellen Verzicht auf die Situationskontrolle voraus. Ein Blind Date haben heißt, sich dem Zufall blind zu überlassen in der Hoffnung, er werde schon etwas Passendes für einen arrangieren, etwas, was man womöglich selber sehenden Auges nicht besser hätte zustande bringen können. Vielleicht, weil man sehenden Auges blind gewesen wäre für das verborgene Potential einer Paarung, deren Plausibilität erst im Nachhinein offensichtlich werden konnte. Erst jenseits des Kalkulierens stehen wir vor den vollendeten Tatsachen, die dann unter günstigen Umständen für sich und damit für diese und gerade diese Paarbildung sprechen mögen. Wo das Kalkulieren und Planen endet, beginnt das Blind Date. Insofern ist jede Form des Ernstmachens mit etwas eine Art Blind Date mit der Wirklichkeit.

Was zusammen gehört, meine Damen und Herren, braucht manchmal nicht erst zusammen zu wachsen, sondern es zeigt sich, wenn man Glück hat, von einem Moment auf den anderen als quasi natürliche, wenn man so will ewige Einheit, die weder einer Eingewöhnungsphase, noch einer Erklärung und schon gar keiner Rechtfertigung bedarf. Blind Dates hält das Leben und hält die Kunst und die Kunstproduktion andauernd bereit, nicht nur bei den Gelegenheiten, die man ausdrücklich so nennt. Und wenn dabei der sogenannte Zufall als Vermittler, um nicht zu sagen als Kuppler seine Hand im Spiel hatte, interessiert das im Nachhinein nur noch am Rande, also beispielsweise hier und jetzt.

Ich sagte, wenn man Glück hat, zeigt es sich, dass das, was im Nahbereich des Einen als das Andere und im Nahbereich des Anderen als das Eine vorkommt, zusammengehört. Man kann natürlich auch Pech haben und nicht eben selten hatte und hat man auch Pech. Ich möchte daran erinnern, dass ich noch immer auch über unsere Blind Dates hier an der Wand spreche. Wenn sich dann die Paarung als wenig plausibel oder sinnvoll erweist, gibt es, falls man den Ort des Geschehens - manchmal ist daraus ein Kampfplatz geworden - nicht überhaupt verlassen möchte, eine Reihe von Reaktionsmöglichkeiten. Erstens: man hält die Sinnlosigkeit des Ganzen einfach stoisch, heroisch, masochistisch oder achselzuckend aus; zweitens: man sucht so lange nach irgendeinem Sinn bis man irgendeinen Sinn findet; drittens: man erklärt das Fehlen des Sinns zum tieferen und eigentlichen Sinn der Veranstaltung oder man stellt viertens den Sinn der Sinnsuche, die Plausibilität der Plausibilitätsforderung grundsätzlich in Frage. Es gibt wahrscheinlich noch einige weitere Möglichkeiten und Untermöglichkeiten, die Sie aber mühelos selbst finden werden oder bereits gefunden haben.

Einhundertundsechzehn Blind Dates auf jeweils fünfunddreißig mal fünfundzwanzig Zentimetern haben Gabriele Goerke und ich arrangiert. Ich will versuchen, die Dimensionen der Blindheit, die bei diesem Spiel im Spiel gewesen ist, ein wenig deutlich werden zu lassen.

Gabriele Goerke war es, die in einer, im wörtlichen Sinne unvorsichtigen Weise einhundertsechzehn Mal den ersten Schritt getan und den Nicht-Ort, die Ödnis des leeren Blattes mit ihren Farbflächen und Linien urbar gemacht und in einen Ort der künstlerischen Möglichkeiten verwandelt hat. Ihre Blindheit war die wohl oder übel wagemutige Blindheit der Vorfahrin, die nicht vorhersehen konnte, was der nach ihr Kommende, also ich, mit dem von ihr Begonnenen anstellen wird. Wetten, dass er es nicht schafft, mir das Bild zu versauen, mag sie gedacht haben, aber wirklich sicher sein konnte sie sich dessen nicht.

Auf meine eigene, um nicht zu sagen: auf die mir eigene unvorsichtige Weise machte ich mich in einer Art Parallelaktion daran, Literaturstellen zu finden, indem ich mich in halb schlafwandlerischem Zustand an den heimischen Bücherregalen entlang bewegte. Mal hier, mal dort griff ich einen Band oder ein Bändchen heraus, schlug es auf und entschied mich blindlings für den erstbesten, nicht allzu langen Satz, der mir ins Auge sprang. Das heißt, für meine beiden letzten Sätze hätte ich mich sehr wahrscheinlich nicht entschieden, Punkt. Für diesen schon eher, Punkt. Welches Zitat ich dann auf welches Blatt abschrieb, war im voraus dadurch festgelegt, dass sowohl Bilder, als auch Sätze jeweils einem bestimmten Tag zwischen dem siebten September und dem einunddreißigsten Dezember 2008 zugeordnet waren. Bei ihrem jeweiligen Blind Date trafen Bild und Text also in vorherbestimmter Weise zufällig aufeinander, mochte es ihnen und uns dann so gefallen oder nicht.

Meine Damen und Herren, Sie sehen, diese Blind Dates hatten nichts Romantisches an sich, was den gängigen Vorurteilen über die Natur solcher Verabredungen allerdings nicht entspricht. Obwohl es die Text-Tortur in kaum noch zu rechtfertigender Weise verlängern wird, möchte ich an dieser Stelle eine kurze Begründung der These geben, dass das Blind Date als Einrichtung eines postromantischen Zeitalters, in dem wir ja längst noch nicht alle angekommen sind, verstanden werden muss.

Das Neue und Andere, das beim Blind Date Wirklichkeit wird, liegt nämlich grundsätzlich außerhalb des Horizonts romantisch verklärender Vorausblicke - allerdings nur solange man die Begegnungsmöglichkeiten nicht von vorneherein so einschränkt, dass von Blindheit für das Kommende kaum mehr die Rede sein kann. Was man nicht kommen sieht, kann man auch nicht romantisieren, denn auch das Romantische liegt vor allem im Auge des Betrachters. Die romantische Selbsttäuschungsbereitschaft wie auch das antiromantische Nüchternheitsgebot gründen vor allem in unterschiedlichen Arten, die Dinge des Lebens zu sehen. Das Paradebeispiel für romantischen Sprachkitsch ist und bleibt daher Saint-Exupérys Satz: "Man sieht nur mit dem Herzen gut". Und wenn es kitschige Äußerungen auch im Geiste eines abgeklärt-nüchternen Pragmatismus gibt, dann gehört Frank Stellas Diktum "What you see is what you see" zweifellos dazu. Im übrigen fährt Frank Stella mit dieser Tautologie "Was man sieht, ist das, was man sieht - und damit hat sich's" natürlich prophylaktisch jedem über den Mund, der angesichts eines Kunstwerks mehr als nur Ah oder Oh sagen will. Welch ein Affront für die gesamte Branche der Kunstvermittler.

Um zur Frage der Romantizität unserer Blind Dates zurück zu kommen: Man könnte die Sache auch auf die Formel bringen: je weniger blind das Date ist, desto größer ist sein romantisches Potential - bzw. umgekehrt: je blinder das Date, desto unausweichlicher folgt die Ernüchterung.

Auch und gerade nach der Romantikdefinition von Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, gäbe es daher nichts Romantischeres als das Paradox eines bewusst arrangierten Blind Dates mit der eigenen Frau bzw. dem eigenen Mann, da ja dabei, wie Novalis es fordert, "dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn" und "dem Bekannten die Würde des Unbekannten" gegeben wird. Bei dieser Art von Verabredung wäre die Neigung zum Spiel und ein gewisses Talent zum Schauspiel allerdings eine unabdingbare Voraussetzung.

Am anderen Ende der Romantik-Skala wäre ein Blind Date mit dem eigenen Tod als dem Unbekannten schlechthin das Unromantischste, was sich im Diesseits erleben ließe, falls dabei von erleben überhaupt noch die Rede sein kann. Von Blind Dates, die den Namen wirklich verdienen, von solchen also, bei denen man tatsächlich keine Ahnung hat, wer oder was auf einen zukommt, wäre romantisch gestimmten Gemütern demnach unbedingt abzuraten.

Meine Damen und Herren, Sie werden sich erinnern: Ausgehend von der Erfahrung, dass unsere hier ausgestellten Blind Dates nichts zu tun hatten mit Gedanken oder Gefühlen, die man romantisch nennen könnte, habe ich versucht, die These zu begründen, dass das Blind Date als solches eine postromantische Institution ist. Da nun aber schon von Romantik die Rede gewesen ist, nutze ich die Gelegenheit, um mit einem Sprung zurück ins frühromantische Jahr 1797 wieder in unser eventuell postromantisches Hier und Jetzt zu kommen. Natürlich landen wir nicht irgendwo, sondern in einem Text, in dem es um die Kunst und die Kunstbetrachtung, namentlich um die von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck verfassten "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" geht:

"Bildersäle werden betrachtet als Jahrmärkte, wo man neue Waren im Vorübergehen beurteilt, lobt und verachtet; und es sollten Tempel sein, wo man in stiller und schweigender Demut und in herzerhebender Einsamkeit die großen Künstler, als die höchsten unter den Irdischen, bewundern und mit der langen, unverwandten Betrachtung ihrer Werke in dem Sonnenglanze der entrückendsten Gedanken und Empfindungen sich erwärmen möchte."

Überlegen Sie bitte einmal ernsthaft, ob Sie sich das nicht zu Herzen nehmen wollen. Verstehen Sie das Zitierte als Vorschlag, in welcher anderen Art von Haltung Sie unsere Ausstellung betrachten könnten, es muss ja nicht unbedingt gleich heute Abend damit begonnen werden.

Lothar Rumold


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